Dipl.-Phys. Wolfgang Pietsch (Universität Augsburg)
Boltzmanns Zeitpfeil - zwischen Legende und Wahrheit
Eines der erstaunlichsten Probleme der Physik besteht in der Frage, warum viele alltägliche Prozesse nicht rückwärts ablaufen: warum zum Beispiel ein Glas zerspringen, aber sich nicht wieder zusammensetzen kann. Derartige Alltagserfahrungen
stehen in überraschendem Kontrast zu einer grundlegenden Tatsache der Physik: der Reversibilität aller fundamentaler Gleichungen, nach welcher auf mikroskopischer
Ebene keine Zeitrichtung ausgezeichnet ist. Ein klassischer Ansatz, diesen Widerspruch aufzulösen, stammt von Ludwig Boltzmann aus den 1870er Jahren.
Im Vortrag soll zuerst in nichttechnischer Sprache umrissen werden, wie Boltzmanns Zeitpfeil in fast allen relevanten Texten erklärt wird. Dann soll diese übliche Auffassung einer philosophischen und konzeptionellen Kritik unterzogen werden. Diese wiederum gibt Anlass, die geläufige historische Darstellung zu überprüfen - mit dem Ergebnis, dass wichtige Äußerungen Boltzmanns vernachlässigt wurden. Die historische Untersuchung bestätigt also die philosophische Kritik. Ich schließe mit einigen Bemerkungen, wie Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie gemeinsam der Legendenbildung in der Physik entgegenwirken können.
Neuere Forschungen/Kolloquium seit 1995