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Mathematische Gesellschaft Hamburg
(* 1690)Christoph J. Scriba (1929-2013), (1996)
Inhalt: Mathematische Gesellschaft Hamburg (*1690)
Die Gründungsphase
Seit dem Ende des 30jährigen Krieges kam es in Hamburg zu
Gründungen von Gesellschaften und Societäten der
verschiedensten Art. Als freie Zusammenschlüsse von
gleichgesinnten Bürgern mit selbstgesteckten Zielen - darunter
auch die Förderung von Wissenschaft und Kunst - kennzeichnen sie
die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und den
Beginn der Aufklärung in Hamburg. Damals entstanden unter anderem
ein Collegium medicum (1644), ein Collegium musicum
(1660) und 1690 die Mathematische Gesellschaft in Hamburg.
Gegründet von Schreib- und Rechenmeistern (d.h. Lehrern und
Buchhaltern) aus Hamburg und Umgebung unter dem Namen
Kunst-Rechnungs-liebende Societät, ist sie eine der
ältesten noch bestehenden wissenschaftlichen Vereinigungen
überhaupt.
Ursprünglich war die Societät eine Mischung aus
wissenschaftlichem Verein und Interessengemeinschaft. Nicht gelehrte
Bildung, sondern praktisch anwendbares Wissen zu vermitteln, war ja
die Aufgabe der Schreib- und Rechenmeister. In den aufblühenden
Gewerbe- und Handelszentren hatten sie seit der Renaissance ihre
Aufgaben neben den kirchlichen Schulen gefunden, welchen in erster
Linie die Vorbereitung auf ein späteres Universitätsstudium
oblag.
Die Lehrergehälter waren zu dieser Zeit nicht sehr üppig, so
daß die Schreib- und Rechenmeister auf Privatunterricht nach
Dienstschluß angewiesen waren. Da eine einheitliche
Lehrerausbildung nicht existierte, besaßen sie einen sehr
unterschiedlichen mathematischen Wissensstand. Man hörte
allenthalben Klagen über die sogenannten ''Winkelschulmeister''.
Schenkt man diesen Glauben, so waren es nicht selten in anderen
Berufen gescheiterte Existenzen, die ''als allerletzte Zuflucht'' eine
Schreib- und Rechenschule eröffneten und damit den Lehrerstand in
Verruf brachten.
Zur Zielsetzung der von den Rechenmeistern Heinrich Meissner
(1643-1716) und Valentin Heins (1637-1704) ins Leben gerufenen
Societät gehörte, daß jedes Mitglied ''die
[mathematische] Kunst möglichst fort zu pflantzen sich
äusserst wolle angelegen seyn lassen.'' Die Statuten verlangten
von jedem, der aufgenommen werden wollte, die Einsendung einer
Probearbeit und eine Aufnahmeprüfung. Kenntnisse in der
Lösung quadratischer und kubischer Aufgaben, Vertrautheit mit den
Grundlagen der euklidischen Geometrie und von Euklids Theorie der
Irrationalzahlen und irrationalen Binomialausdrücke wurden
vorausgesetzt. Die Mehrzahl der Schulmeister an den Privatschulen
konnte diese Erwartungen nicht erfüllen - kein Wunder also,
daß unter den 15 Gründungsmitgliedern nur sechs Hamburger
waren!
Man wollte sich gegenseitig bei der Herausgabe mathematischer
Schriften unterstützen. Durch ein kaiserliches Druckprivileg
etwas gegen die damals üblichen Raubkopien geschützt,
erschienen erfolgreiche Rechenbücher, wie z. B. die
Schatz-Kammer der Kauffmännischen Rechnung von
Valentin Heins und der Stern und Kern der Algebra von
Heinrich Meissner.
Die Reaktionen auf die Societätsgründung waren recht
unterschiedlich. Standesdünkel und der scheinbare Zunftcharakter
der Societät sorgten für Skepsis bei den
Mathematikprofessoren des angesehenen Hamburger Gymnasiums
Johanneum und des Akademischen Gymnasiums.
Dagegen äußerten sich auswärtige Gelehrte durchaus
positiv über die neue Vereinigung. So konnte man 1703 aus
D. Clüvers Curiösem Philosophischen Zeit-Vertreiber
erfahren, ''daß Hamburg in dem Fall (was die Rechen-Kunst
betrifft) billig den Vorzug nicht allein für allen Städten
in Teutschland sondern in gantz Europa bereits erworben hat.''
Nach dem Tod der engagierten Gründer beschränkte man sich
vorwiegend auf das Rechnen verzwickter Aufgaben. Nur die
überregionale Ausdehnung der Gesellschaft, speziell der Kontakt
zu hölländischen Wissenschaftlern, sicherten das
Weiterbestehen der Societät.1
1 - Zur Geschichte der
Mathematischen Gesellschaft in Hamburg vgl. [Bubendey 1890],
[Lony 1941], [Riebesell 1928], [Schimank 1941] und insbes.
[Wettengel 1990]; zur Geschichte der Wissenschaften in Hamburg im
allgemeinen [Schimank 1928].
Beispiele aus den frühen Schriften
Meissners Stern und Kern der Algebra
Wie sahen nun die Bücher dieser Rechenmeister vor 300 Jahren aus?
Als erstes Beispiel sei Heinrich Meissners Stern und Kern der
Algebra aus dem Jahr 1692 gewählt. Im Vorbericht weist der
''Schreib-, Rechen- und Obermeister'' an der St. Jacobi-Schule die
verbreitete Ansicht zurück, die Rechenkunst gehe nicht über
die Haushalts- und Kaufmannsrechnung hinaus. Gewiß würden
einige Leute wünschen, daß diejenigen, die sich mit Algebra
beschäftigen, ''mit ihrer abentheurlichen Algebra entweder aus
dem Lande verbannet oder in die Elbe versenket''
würden.2
2 - Heinrich Meissner: Stern und Kern der
Algebra, [Hamburg] 1692, Vorbericht (unpag.).
3 - Ibid.
4 - Ibid., S. 95.
5 - Ibid., S. 222.
der ziehe hie die Wurtzeln aus:
$1x^{10-28x^9+341x^8-2368x^7+10322x^6-29272x^5+54082x^4-63264x^3+43818x^2
-15648x+2022 = 0$ \,.
6 - Ibid., S. 329.
7 - Ibid., S. 343-348.
8 - Vulgata: Ps 110,10; Prv 1,7; 9,10; Sir 1,16.
Heins' Tyrocinium
Andere Werke der Hamburger jedoch, so insbesondere das Tyrocinium Mercatorio-Arithmeticum (Das kaufmännisch-arithmetische Probestück) des Valentin Heins von 1694, eine ''Ordentliche Grundlegung zur Kaufmännischen Rechnung'', entsprachen mehr den Bedürfnissen der Kaufleute. Mit 22 Auflagen - die letzte erschien 1805 - war dieses an der Praxis ausgerichtete Werk ein Bestseller, der durchaus dazu berechtigt, das Gründungsmitglied Valentin Heins als den Adam Ries der Hamburger zu bezeichnen.
Beim Abfassen des Buches kam Heins, der Schreib- und Rechenmeister an der Kirchenschule von St. Michaelis war, seine Nebentätigkeit als Buchhalter (von 1661 bis 1672) der Guineisch-afrikanischen Kompagnie zugute. Diese war am profitablen Dreieckshandel mit Gold, Elfenbein und Sklaven aus Westafrika und Zucker, später auch Rum und Baumwolle aus Westindien beteiligt. Daher bringt Heins auch Berechnungen des Erlöses einer solchen Fahrt unter Anrechnung der Unkosten eines jeden Anteilseigners, der Verluste - wenn z.B. Sklaven auf der Überfahrt starben - wie unter Beifügung religiös-moralischer Ermahnungen, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ''des Höchsten Gunst'' zu vertrauen.
Die Mathematische Gesellschaft in der Aufklärung
Als 1716 mit Heinrich Meissner das letzte der hamburgischen Gründungsmitglieder starb, hatte die Gesellschaft noch drei Mitglieder in Hamburg, von denen ein weiteres im folgenden Jahr verschied. In den beiden nächsten Generationen waren es vorwiegend die auswärtigen Mitglieder, die die Gesellschaft - in erster Linie durch ihre Publikationen - am Leben erhielten. Zunächst bildeten der norddeutsche Raum und Dänemark mit dem Herzogtum Schleswig, gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die nördlichen Niederlande um Amsterdam das Haupteinzugsgebiet der Mitgliedschaft.
Genannt werden muß der Schulmeister Paul Halke (oder Halcke, † 1731) aus Buxtehude, dessen Deliciae Mathematicae, oder Mathematisches Sinnen-Confect 1719 in Hamburg mit Druckprivileg von Kaiser Leopold herausgegeben wurde. Gestützt auf Christian Wolffs Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften, die der deutsche Aufklärungsphilosoph 1710 in Halle publiziert hatte, brachte Halke in seinen Deliciae auch schon Aufgaben aus der Differential- und Integralrechnung.
Allmählich wurden im 18. Jahrhundert neben höher qualifizierten Lehrern und Kaufleuten auch Akademiker - vor allem auswärtige - in die Gesellschaft aufgenommen. Sie trugen zur Überwindung der Standesunterschiede bei. Nahm die Publikationstätigkeit der Mitglieder auch ab, so versandte andererseits der Vorstand seit 1718 zu Johannis regelmäßig einen Jahrbrief. Doch der ursprüngliche Schwung war dahin. Daran war nicht nur die geringe Mitgliederzahl schuld; die inzwischen überholte, barock verspielte Einstellung zur Mathematik hatte die Gesellschaft ins Abseits geführt.
Dem Charakter der vom Bürgertum getragenen Handelsstadt entsprach es, daß es hier 1765 zur Gründung einer Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe kam, der späteren (und heute noch existierenden) Patriotischen Gesellschaft. Gelehrte, Juristen und Kaufleute vereinigten sich in ihr mit dem Ziel, das Gemeinwohl zu fördern, Handel und Gewerbe zu verbessern, soziale Einrichtungen aufzubauen und zu unterstützen. Mitglieder der Kaufmannschaft und wohlhabende Honoratioren bestimmten die Richtung der Tätigkeit dieser einflußreichen Hamburger Gesellschaft; Förderung der Wissenschaft war, trotz der Mitgliedschaft angesehener Gelehrter, nicht ihr Ziel.
Dennoch wirkte ihr Vorbild indirekt zurück auf die Kunst- und Rechnungs-Societät, wie sie sich inzwischen nannte. Denn diese revidierte die Statuten 1774 und 1789/1790, um sie ''gemeinnütziger und vollkommener'' zu machen. Zum hundertjährigen Jubiläum gab sie sich auch einen neuen, nüchternen Namen: Gesellschaft zur Verbreitung der mathematischen Wissenschaften in Hamburg. So lobten die Hamburgischen Addreß-Comptoir-Nachrichten vor 200 Jahren, nach bedauernden Bemerkungen über die teilweise abwegigen Leistungen der Gründerväter, die Tätigkeit der jetzigen Mitglieder der Gesellschaft mit folgenden Worten:9
9 - Zitiert nach [Wettengel 1990], S. 88-89.
Die technische Periode (das 2. Jahrhundert)
Nach den Reformen zum 100. Jubiläum blieb der Gesellschaft zur Verbreitung der mathematischen Wissenschaften nur ein Jahrzehnt, bevor das Schicksal der Stadt fast 15 Jahre lang durch wechselndes Kriegsgeschehen während der napoleonischen Kriege bestimmt wurde. Insbesondere blieb der schlimme Winter des Jahres 1813 noch lange in schrecklicher Erinnerung, als das französische Militär die Stadt zur Festung ausbauen ließ und in den eisigen Weihnachtstagen die ärmere Bevölkerung vertrieb. Erst mit der bald einsetzenden wirtschaftlichen Erholung nach 1814 wurde auch wieder ein geordnetes Vereinsleben möglich.
Der von Frankreich ausgehende, vom technisch orientierten Lehrplan der Ecole Polytechnique geprägte Zeitgeist in der damaligen Mathematik erfaßte auch die Gesellschaft. Erstmals traten ab 1815 Offiziere als Mitglieder bei und es wurden militärtechnische Bücher in die Bibliothek eingestellt. Vermehrt werden Ingenieure, Architekten und Mechaniker als Mitglieder aufgenommen. Charakteristische Beispiele dafür sind der Wasserbauingenieur Reinhard Woltman (1757-1837) und der Mechaniker und Spritzenmeister Johann Georg Repsold (1770-1830), der 1802 auf der Bastion Albertus eine Sternwarte errichtete. Zwar mußte sie 1813 auf französische Anordnung hin abgebrochen werden, doch konnte sie zwölf Jahre später in einem Neubau ihre Arbeit fortsetzen.
Fast alle Direktoren der Sternwarte und viele ihrer Mitarbeiter gehörten fortan der Gesellschaft an, ebenso Direktoren und Lehrer der Navigationsschule und - nach ihrer Gründung 1875 - auch der Seewarte. Im Jahre 1819 veröffentlichte die Mathematische Gesellschaft das von Woltman herausgegebene Handbuch der Schiffahrtskunde zum Gebrauch für Navigationsschulen, auch zum Selbstunterricht angehender Steuerleute. Es erlebte schon 1832 die 3. Auflage; drei weitere besorgte der Direktor der Sternwarte und Navigationsschule Ch. Carl L. Rümker, seit 1819 Mitglied der Gesellschaft.10
10 - [Bubendey 1890], S. 62.
Pläne der Gesellschaft, auch ein magnetisches Observatorium in Hamburg zu errichten, ließen sich nach dem großen Brand von 1842, dem zentrale Teile Hamburgs zum Opfer fielen, nicht verwirklichen. Mancherlei Bau- und Vermessungsprobleme wurden in Kreisen der Gesellschaft diskutiert, sei es in Verbindung mit der Einebnung der Befestigungswälle nach 1815, sei es beim Wiederaufbau der schwer zerstörten Stadt nach der Brandkatastrophe von 1842. Auch die Herausgabe eines Numerischen Hülfsbuches für Techniker und Ingenieure für Hamburg und dessen Umgegend wurde 1847 in Angriff genommen - ein Jahr, nachdem sich in Berlin der Akademische Verein Hütte konstituierte, der dann seit 1857 die Hütte, das bekannte Handbuch des Ingenieurs, herausgab.
Dennoch hatte man über all diesen praktisch-technischen Aufgaben das ursprüngliche Ziel nicht ganz aus den Augen verloren. Noch immer waren die Lehrer eine einflußreiche Gruppe unter den Mitgliedern. Und die Schulverhältnisse in Hamburg hatten im 19. Jahrhundert einen sehr schlechten Ruf.
Bereits gegen 1800 setzten sich der Schulmeister an der St. Jakobi-Kirchenschule, Johann Hinrich Röding (1732-1800), und derjenige an St. Michaelis, Christoph Dietrich Westphalen, intensiv für eine Reform des mathematischen Elementarunterrichtes ein. Als bedeutender Schulreformer wirkte auch das auswärtige Mitglied Daniel Schürmann (1752-1838) aus Remscheid; sein Practisches Schulbuch der gemeinen Rechenkunst und Geometrie von 1801 war im Bergischen Land bis 1870 in Gebrauch!11
11 - Vgl. [Brenner 1989].
Die Mathematische Gesellschaft im Kaiserreich
Zunehmende Anerkennung und Professionalisierung des Ingenieurberufs hatten im 19. Jahrhundert zur Bildung spezieller Techniker-, Architekten- und Ingenieurvereine geführt. Sie entzogen der Mathematischen Gesellschaft traditionelle Mitgliedergruppen, so daß sie zeitweise nur wenig mehr als 20 einheimische Mitglieder zählte. Die Neuaufnahmen rekrutierten sich nun stärker aus dem Kreis der Mitarbeiter der Sternwarte, der Deutschen Seewarte, aus anderen wissenschaftlichen Anstalten und dem Lehrkörper der höheren Schulen. Das Interesse der Gesellschaft verschob sich von der praxisorientierten angewandten Mathematik zur reinen Mathematik.
Ab 1872 gab die Gesellschaft eine eigene Zeitschrift, die Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg, heraus. Eine führende Rolle spielte der als Geometer weit über Hamburg hinaus bekannte Gymnasialprofessor Hermann Schubert (1848-1911). Große Verdienste erwarb sich die Gesellschaft mit der Herausgabe (1890) eines Katalogs aller in hamburgischen Bibliotheken vorhandenen mathematischen und physikalischen Publikationen aus Anlaß ihres 200jährigen Bestehens (Nachträge erschienen 1894 und 1906/07).
Die Herausgabe der Mitteilungen ermöglichte es der Mathematischen Gesellschaft, einen umfangreichen Schriftentausch mit auswärtigen Gesellschaften, Bibliotheken und Institutionen aufzubauen, darunter fünf italienischen, drei niederländischen und zwei japanischen. Ist es Zufall, daß es keinen Tauschpartner in Großbritannien und nur einen in Frankreich gab, oder machte sich hier der nationale Chauvinismus bemerkbar, der weithin im Kaiserreich um sich griff? Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg dauerte es viele Jahre, bis die deutsche Wissenschaft wieder als gleichberechtigter Partner von allen Siegermächten akzeptiert wurde.
Die Mathematische Gesellschaft seit der Gründung der Universität Hamburg
Mit der Gründung der Hamburger Unversität unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg erhielt auch die Mathematische Gesellschaft einen neuen Impuls. Die beiden Lehrstühle des Mathematischen Seminars wurden noch 1919 mit Wilhelm Blaschke (1885-1962) und Erich Hecke (1887-1947), das Extraordinariat mit Johann Radon (1887-1956) besetzt. Um diese hervorragenden Mathematiker scharte sich rasch eine jüngere Gruppe von ebenfalls hochbegabten Dozenten, Assistenten und Doktoranden, so daß die Mathematik in Hamburg bald weltweites Ansehen genoß.
Fast alle Mitglieder des Mathematischen Seminars traten auch der Gesellschaft bei; manche blieben ihr auch nach Wegberufung an eine andere Universität treu. Stand im Seminar die Forschung auf den Gebieten der reinen Mathematik im Vordergrund (insbesondere in der Geometrie, der Funktionentheorie, der Zahlentheorie und der Algebra), so wandte die Mathematische Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit, wie schon vor dem Kriege, weiterhin besonders den Anwendungen zu. Besichtigungen geeigneter Laboratorien, Versuchsanstalten und Firmen bildeten damals einen festen Bestandteil ihres Programms.
Die Gesellschaft unterstützte das Seminar beim Aufbau einer Bibliothek - unter anderem durch Überlassung der im Tausch eingehenden Zeitschriften. Bis 1923 hatte die Mathematische Gesellschaft im Gebäude der Patriotischen Gesellschaft ihr Domizil; dann erzwang die Inflation Veränderungen. Da auch das Archiv betroffen war, kam es zur festen, auch heute noch bestehenden Anbindung an das (damals in der Rothenbaumchaussee 21 untergebrachte) Mathematische Seminar. Das verstärkte naturgemäß die schon bestehende Tendenz zur ''Verwissenschaftlichung'' der Gesellschaft.
Verursacht durch die schwierige Wirtschaftslage, gingen gegen Ende der 20er Jahre die Mitgliederzahlen stark zurück - fast parallel zum Schwinden der Studentenzahlen in Mathematik von 213 im Sommersemester 1930 auf 28 im Wintersemester 1938/39! Der nationalsozialistische Einfluß machte sich im Interessengebiet der Gesellschaft besonders bei der Gestaltung der Schulbücher bemerkbar, kaum aber in ihrem Vortragsprogramm. Doch verlor sie mehrere prominente Mitglieder, die vom NS-Regime entlassen oder in die Emigration getrieben wurden. Lediglich Emil Artin (1898-1962), Mathematiker von Weltrang, kehrte 1958 an die Universität zurück und wirkte bis zu seinem Tod 1962 aktiv in der Mathematischen Gesellschaft mit.
Selbst zu Beginn des Krieges konnte der internationale Schriftentausch noch ausgedehnt werden. Er umfaßte 1940 85 ausländische Tauschpartner. Mit der Zerstörung Hamburgs im Juli 1943 wurde nicht nur ein großer Teil des Archivs und der Bibliothek (ca. 60000 überwiegend ältere Werke, die sich weiterhin im Gebäude der Patriotischen Gesellschaft befunden hatten) vernichtet, sondern auch jede weitere Aktivität für die nächsten vier Jahre unmöglich gemacht.
In den Jahren des Wiederaufbaus hat sich vor allem Werner Burau (1906-19..) größte Verdienste um die Gesellschaft erworben - zehn Jahre lang, von 1950 bis 1960, stand dieser Professor für Geometrie ihr als Jahrverwalter vor. Mit drei Ehrenmitgliedern, 101 einheimischen und 30 auswärtigen Mitgliedern war 1963 ungefähr der Höchststand in der Mitgliederzahl, den die Gesellschaft gegen Ende der zwanziger Jahre besessen hatte, wieder erreicht. Stark zugenommen hatte der Anteil der Gymnasial- und Realschullehrer, abgenommen der Mitgliederanteil aus Wirtschaft und Technik. Die Gründung eines Arbeitskreises zur Verbesserung des mathematischen Schulunterrichts, die Einrichtung regelmäßiger, im Programm besonders auf die Bedürfnisse der Lehrer abgestimmter Tagungen, die Mitarbeit beim Entwurf neuer Lehrpläne, die Veranstaltung von Schülerwettbewerben und die Einführung von Schülerzirkeln trugen der neuen Struktur Rechnung und ließen die Mitgliederzahl inzwischen auf über 320 ansteigen.
Die seit 1959 wieder erscheinenden Mitteilungen entwickelten sich zu einer angesehenen Fachzeitschrift; sie wird heute mit annähernd hundert Austauschpartnern in 23 Ländern getauscht. Neu hinzu kamen in den letzten Jahren größere wissenschaftliche Symposien, die sich mit Themen aus dem Bereich der aktuellen mathematischen Forschung beschäftigten. Den bisherigen Höhepunkt stellte die 300-Jahr-Feier dar, auf der 1990 über 300 Mathematikerinnen und Mathematiker aus rund 25 Ländern eine ganze Woche lang über Ergebnisse und Probleme der heutigen Mathematik sowie über Resultate der mathematikhistorischen Forschung berichteten und diskutierten - erstmals seit langem auch wieder unter reger Beteiligung der mitteldeutschen Kollegen.
Der Name und das Emblem der Mathematischen Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte
Der ursprüngliche Name der Gesellschaft ist in Übereinstimmung mit den 1690 in der Kunstkette Meissners veröffentlichten Leges Kunstrechnungsliebende Societät gewesen, während sich später manche Abweichungen hiervon finden.
In der 1695 herausgegebenen Algebra Tyronica lesen wir: Kunstrechnungsübende Societät, in dem 1699 herausgegebenen 1. Buche des Euklid: Kunstrechnungslieb- und übende Societät, und Paul Halcke nennt die Gesellschaft in seinem 1719 erschienenen Mathematischen Sinnenkonfekt Societät der Kunstrechner.
Über das von der Gesellschaft gewählte und noch jetzt gebrauchte Sinnbild sagt die Vorrede zur Kunstkette:
Was gefunden, ich verwahr
Und noch finde immerdar.Antiqua emendo
substituoque nova.Aus der Festschrift zur 200-Jahr-Feier der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg, 1890, Teil I, S. 22/23.
Literatur
Brenner, E.:
''Nach Schürmanns Rechenbuch''. Zum 150. Todesjahr des bergischen Rechenmeisters. Daniel Schürmann (1752 bis 1838), Mitglied der Mathematischen Gesellschaft Hamburg. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 11, Heft 6 (1989), 703-726.
Bubendey, J. F.:
Geschichte der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 1690-1890. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 2, 1. Teil (1890), 8-78.
Lony, G.:
Die Mathematische Gesellschaft in Hamburg in den Jahren 1890-1940. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 8, Teil 3 (1941), 22-54.
Riebesell, P.:
Geschichte der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 6, Heft 8 (1928), 395-397.
Schimank, Hans:
Zur Geschichte der exakten Naturwissenschaften in Hamburg von der Gründung des Akademischen Gymnasiums bis zur ersten Hamburger Naturforschertagung. Hamburg 1928. 144 S.
Schimank, Hans: Die Kunst-Rechnungs-liebende Societät als Gründung deutscher Schreib- und Rechenmeister. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 8, Teil 3 (1941), 22-54.
Wettengel, Michael:
Die Geschichte der wissenschaftlichen Gesellschaften in Hamburg unter besonderer Berücksichtigung der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg von 1690. Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg 12, Heft 1 (1990), 61-205.
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