Universität Hamburg - Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik

NACHRICHTEN
aus dem Institut für Geschichte der
Naturwissenschaften, Mathematik und Technik
HAMBURG


Nummer 26, April 1996

 

,,Tradition der antiken Architektuttheorie''
Blockseminar in der Herzog Augustbibliothek in Wolfenbüttel

Im Rahmen des Graduiertenkollegs ,,Textüberlieferung'' fand vom 15. bis zum 19. 5. 1995 unter der Leitung von Prof. Christoph J. Scriba und Frau Dr. Jeanne Peiffer ein Blockseminar zur ,,Tradition der antiken Architekturtheorie in der geometrischen Praxis des Mittelalters und der frühen Neuzeit'' in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel statt. Neben Kollegiaten nahmen auch Studierende und Doktoranden des Instituts für Griechische und Lateinische Philologie und des IGN an der Veranstaltung teil.

Zum Auftakt trug Dr. Evgeny Zaitsev über das Skizzenbuch von Villard de Honnecourt von 1235 vor. Vor allem die darin enthaltenen grob gezeichneten geometrischen Figuren bereiten einer Interpretation große Schwierigkeiten und lassen noch einige Fragen hinsichtlich ihrer Bedeutung offen. Im Anschluß daran stellte Prof. Scriba drei für die Architektur der beginnenden Neuzeit wichtige Werke vor, nämlich ,,Fialenbuch'' und ,,Geometria Deutsch'' des Mathes Roriczer sowie das ,,Fialenbuch'' von Hans Schmuttermayer. Die Anwendungsorientierung jener Werke spiegelt sich darin, daß die Konstruktionsregeln immer nur in bezug auf die praktische Anwendung angegeben wurden. In der ,,Geometria Deutsch'' erschienen speziell die Konstruktionen regelmäßiger Polygone interessant.

Der antiken Zusammenfassung der Architekturtheorie, Vitruvs ,,Zehn Bücher über Architektur'', war der Dienstagvormittag gewidmet. Janine Deus referierte hierzu und konnte vermöge ausgewählter Textstellen des Vitruvschen Werkes einige Gesichtspunkte zur Proportionslehre näher verdeutlichen. Die Entwicklung der Perspektive in der Renaissance, dargestellt an Hand des Werkes von Leon B. Alberti, stand im Mittelpunkt des Referates von Burkhard Reis. Wichtige Aspekte für Kunst und Architektur waren dabei die Einführung des Fluchtpunktes, der Zentralperspektive und des unendlichen Raumes. Speziell bei der Raumauffassung konnten signifikante Unterschiede zwischen Antike und Renaissance herausgearbeitet werden.

Die Erörterung der Vitruv-Rezeption wurde am Mittwochmorgen fortgesetzt durch ein Referat von Johanna Mensink. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie Vitruv bzw. seine Epigonen Faventinus und Palladius die spätere Baukunst beeinflußten. Mit einem in Kunst und Architektur häufig angewandten Konstruktionsprinzip, dem Goldenen Schnitt, befaßte sich im Anschluß daran ein Vortrag von Sonja Schönauer. Hierbei ließ sich besonders deutlich die Verknüpfung von Mathematik und Kunst veranschaulichen, da durch die Mathematik eine Grundlage für das in der Kunst angestrebte Ebenmaß von Körpern geliefert wird.

Nachdem Frau Peiffer bereits zuvor immer wieder die Bedeutsamkeit von Dürer betont hatte, wurde ihr Vortrag über dessen ,,Underweysung'' mit Spannung erwartet. Ausgehend von der Betrachtung der Kontakte zwischen Pirkheimer und Dürer stellte sie die Dürerschen Bemühungen vor, Malerei wissenschaftlich zu ergründen und insbesondere die Geometrie als Propädeutik für die Malkunst zu etablieren. Durch diese mathematische Fundierung steigt damit die Malerei von der reinen Handwerklichkeit auf die Ebene der Artes liberales auf. An Hand von Drucken aus den Beständen der HAB konnten die Konstruktionsweisen Dürers bzw. seines Umfeldes mit Beispielen veranschaulicht werden. In der Diskussion wurden neben der deutschen Terminologie Dürers nochmals mathematikhistorisch interessante Punkte seiner Werke angesprochen.

Am Donnerstag trugen Sergine Dupont und Andreas Wilke über die historische Entwicklung der Raumauffassung seit der Antike vor. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf den einzelnen Vor- und Nachteilen hinsichtlich der Projektion und ihrer ästhetischen Wirkung bei unterschiedlichen Perspektivkonstruktionen. Die Reihe der Vorträge schloß ein Referat von Samantha Schad zur Entwicklung der Fachterminologie ab. Hierin stellte sie die wesentlichen Begriffe der Architektur- und Kunsttheorie seit der griechischen Antike bis zur Terminologie von Dürer vor und erläuterte Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen ihnen.

Nachdem wir an den Abenden zuvor die Gastronomie Wolfenbüttels erforscht hatten, war das nahende Ende des Seminars von mehreren Teilnehmerinnen zum Anlaß genommen worden, alle Beteiligten zu einem hervorragenden Menü ins Anna-Vorwerk-Haus einzuladen. Dort verbrachten wir den letzten Abend in angenehmer Atmosphäre.

In einer Abschlußdiskussion wurden am Freitagvormittag die Ergebnisse des Seminars zusammengefaßt sowie ausführlich über Selbstverständnis und Historizität der Mathematik diskutiert.

Georg Schuppener


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Gerhard Wiesenfeldt, 30. September 1996