Im Sommersemester 1994 veranstalteten Herr Prof. Scriba und ich gemeinsam dieses Seminar, dessen Thema eng mit meiner in Ausarbeitung befindlichen Dissertation zusammenhängt. - Es war von vornherein interdisziplinär angelegt, und so kamen auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus sehr unterschiedlichen Fachrichtungen, wie da sind: Kunstgeschichte, Architektur, Mathematik, Physik, Medizin, Holz- und Kunststofftechnik, Linguistik, sowie Mathematik- und Physikgeschichte. - Ziel des Seminars war es, von verschiedenen Gesichtspunkten aus Indizien zusammenzutragen, die die Möglichkeit bieten, die unter anderen auch von Erwin Panofsky in seinem Aufsatz "Die Perspektive als symbolische Form" vorgetragene These von einer Veränderung der Raum-Anschauung in der historischen Entwicklung kritisch zu prüfen.
Das Seminar gliederte sich in zwei Teile; der erste war der Raum-Anschauung in der Antike, der zweite der der Renaissance und frühen Neuzeit gewidmet. In beiden Teilen wurde das Thema zunächst vom kunsthistorischen Blickwinkel aus betrachtet. - Im ersten Teil wurde den Besonderheiten der antiken Architektur beonderes Gewicht beigemessen, im zweiten Teil der Einführung der Linearperspektive in die Malerei. Anschließend wurde - auch dies in beiden Teilen analog - versucht, die damals vorherrschenden Beschreibungen des Sehvorganges (physiologisch und optisch) herauszuarbeiten, um schließlich die abstrakteren mathematisch-geometrischen Theorien überblickartig ihrem Inhalte nach vorzustellen.
Bei diesem Vorgehen stellten sich bei Studentinnen und Studenten so unterschiedlicher Fachrichtungen sehr bald wechselseitige Verständigungsschwierigkeiten ein und so war es nicht immer leicht, die zentrale Fragestellung fest im Auge zu behalten. - Dennoch konnten aus den so zusammengetragenen Indizien Unterschiede zwischen der Raum-Anschauung der Antike und der der Renaissance und frühen Neuzeit evident werden.
Es zeigte sich, daß in der Antike weitgehend die Aktivität des Sehens im Vordergrund stand, so daß der Winkel, unter dem der aktiv Sehende die Gegenstände mit seinen Sehstrahlen umfaßt, die entscheidende Rolle spielte. - In der Renaissance und frühen Neuzeit dagegen scheint dieses Konzept nicht mehr im Vordergrund gestanden zu haben, sondern der Gegenstand als solcher in seiner objektiv-quantitativen Ausdehnung sowie die Vorstellung, daß der Gegenstand auf das Auge den Eindruck mache - hier ist das Auge - als ob seine Größe sich umgekehrt proportional zu seiner Entfernung vom Betrachter verhalte.
Wie diese festgestellten Unterschiede in Hinblick auf die eingangs erwähnte These von der Veränderung der Raum-Anschauung in der historischen Entwicklung zu interpretieren sind, wird sich jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer an diesem Seminar in eigener Weise beantwortet haben.
Andreas Wilke