Bereich Geschichte der
Naturwissenschaften,
Mathematik und Technik
Universität Hamburg
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Sommersemester 2006

Kolloquium zur Geschichte der
Naturwissenschaften, Mathematik und Technik

Montags 18.00 - 19.30 Uhr,
Geomatikum (Bundesstr. 55),
Hörsaal 6 (Erdgeschoß)

Gesamt-Programm zum Ausdrucken

Inhaltsangabe der Vorträge

Letzte Änderung: 16. Januar 2010

3.4.2006 ausnahmsweise um 18.15 Uhr
Prof. Dr. Dorothea Frede (Universität Hamburg)
Über Sinn und Nutzen der Prinzipienforschung bei Aristoteles
Aristoteles war weder der Begründer der Wissenschaften in der Antike noch auch der Wissenschaftslehre als ganzer. Er hat freilich dazu in wichtiger Hinsicht durch Systematisierung der Prinzipienreflexionen beigetragen. So ist Aristoteles die fachliche Einteilung der Philosophie durch die Grundbesinnung auf die Natur des jeweiligen Gegenstandes und der ihm angemessenen Methodik zu verdanken. Dies soll an drei Beispielen vorgestellt werden:
(a) der Einteilung alles Seienden in die 10 Kategorien;
(b) der Vier-Ursachen-Lehre;
(c) der Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit.
Auch wenn diese Schemata heute nicht mehr oder nicht mehr in ihrem ursprünglichen aristotelischen Sinn verwendet werden, so haben sie doch für Jahrhunderte der wissenschaftlichen Methodik zur Grundlage gedient.
10.4.2006
Prof. Dr. Wolfgang König (TU Berlin)
Der Kaiser und sein Ingenieur: Wilhelm II. und Adolf Slaby
Wilhelm II. wird von Zeitgenossen und Historikern ambivalent beurteilt: politisch der Vergangenheit verhaftet, technisch-wissenschaftlich dagegen ein Repräsentant der Moderne. Zu den modernen Zügen des Kaisers gehörten sein Interesse für Technik- und Naturwissenschaften sowie seine Beziehungen zu Ingenieuren und Wissenschaftlern. Der Vortrag behandelt die Beziehung zwischen Wilhelm II. und dem Elektrotechniker an der Technischen Hochschule Berlin Adolf Slaby. Slaby wurde zum wichtigsten Berater Wilhelms in allen Fragen der Technik. Die beiden lernten sich 1893/94 im Zusammenhang mit der elektrischen Beleuchtung des Berliner Stadtschlosses kennen. Bis zu Slabys Tod 1913 unterhielten sie enge persönliche Kontakte. Auf Veranlassung des Kaisers wandte sich Slaby der Funktechnik zu und führte Pionierarbeiten durch, die 1903 in die Gründung der Gesellschaft Telefunken mündeten. Slaby beeinflusste die Technik-, Wissenschafts- und Hochschulpolitik des Kaisers. Der Kaiser erwies ihm hohe öffentliche Ehrungen. Im krassen Gegensatz hierzu besaß Slaby in der wissenschaftlichen Welt nur geringes Ansehen. Dies findet seine Erklärung darin, dass Slaby zwar ein erfolgreicher Wissenschaftsmanager und Wissenschaftspolitiker war, aber kein forschender Wissenschaftler.
24.4.2006
Prof. Dr. Ingrid Kästner (Universität Leipzig)
Leipzig als ein Zentrum der Hirnforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Um die Mitte des 19. Jh. hatte sich in der Medizin ein naturwissenschaftliches Konzept durchgesetzt, das für die Leipziger Medizinische Fakultät weitreichende Folgen zeitigte. Hier standen Ernst Heinrich Weber und Carl Ludwig für die Einführung quantifizierender Forschungsmethoden und das Bestreben, bei den Prozessen im Organismus Kausalbeziehungen zu finden. Die Hoffnung, durch das Experiment auch die Funktionen des Nervensystems aufklären und damit zu einer Kausaltherapie von dessen Störungen kommen zu können, führte zu verstärkter Beschäftigung mit der Anatomie und Physiologie von Gehirn und Nervensystem. So entstanden Institutsgründungen und Schulen, die weit über Leipzig hinaus reichten; genannt seien als deren Vertreter nur Wilhelm Wundt, der Begründer der experimentellen Psychologie, und Paul Flechsig mit seiner "myelogenetischen Hirnlehre" als Vertreter der experimentellen Hirnforschung in der Medizin. Die Auswirkungen des neuen Konzeptes auf die Klinik zeigten sich - neben Fortschritten in der Diagnostik - sowohl in der Berufungspolitik als auch in den Auseinandersetzungen um die Etablierung und Stellung der Neurologie als eigenständiges Fachgebiet.
8.5.2006
PD Dr. Norbert Fischer (Heide)
- Inszenierungen der Küste - Ein Forschungsprojekt zur Landschaft an der Nordsee
Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojektes untersuchen PD Dr. Norbert Fischer, Dr. Susan Müller-Wusterwitz und PD Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (alle Universität Hamburg) den Themenkomplex - Inszenierungen der Küste. Aus sozialgeschichtlichen, kunsthistorischen und volkskundlich-ethnologischen Perspektiven werden in drei Einzelstudien Wahrnehmung und Repräsentation der Landschaft an der Nordseeküste erforscht: - Das Meer und der Tod: Gedächtnislandschaften an der Nordsee; - Felsige Küsten als Projektionen der Fremde in der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, - Maritime Denkmals(er)findung. Ein Küstenort inszeniert sich.
15.5.2006
PD Dr. G. Oestmann (Universität Hamburg)
Zur Geschichte des nautischen Unterrichts in Preußen bis 1870
Die nautische Ausbildung von Seeleuten erfolgte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch das Erlernen der mathematischen, astronomischen und instrumentellen Grundlagen von alten Steuerleuten und Kapitänen. Durch die Ausweitung des Schiffsverkehrs nach Übersee wurden zunehmend höhere Anforderungen an die Schiffsführer gestellt, und der Bedarf an qualifiziertem Personal stieg allgemein an. In Preußen wurde zunächst in Stettin (1756) und Emden (1782) eine institutionalisierte nautische Ausbildung eingeführt. Der Ausbau des Navigationsschulwesens erfolgte dort von Anfang an unter staatlicher Regie mit einheitlicher Planung. Im Vortrag wurde die Entwicklung bis zum Jahre 1870 behandelt. In diesem Jahr trat ein Gesetz in Kraft, mit dem die Aufsicht über die Prüfung und Befähigung von Seeleuten zunächst auf den Norddeutschen Bund und wenig später auf das Deutsche Reich überging. Nunmehr wurden allgemein einheitliche, am Vorbild Preußens orientierte Regularien eingeführt, welche die je nach Territorium unterschiedlichen Ausbildungsvorschriften ersetzten und eine wissenschaftliche Ausrichtung des nautischen Unterrichts festschrieben, wie sie für das Seefahrtschulwesen bis in unsere Tage prägend ist.
22.5.2006
Prof. Dr. Ursula Weisser (Universität Hamburg)
Die Krankenschule am Eppendorfer Krankenhaus um das Jahr 1900 - eine frühe Vorläuferin des modernen Unterrichts für hospitalisierte Kinder
Sporadische Nachrichten über Schulunterricht für kranke Kinder existieren für Deutschland bereits aus der ersten Hälfte des 19. Jh.s; sie betreffen zumeist kleine Spezialanstalten. Dank eines zufälligen Aktenfundes läßt sich nun für wenige Jahre (1898-1902) eine Krankenschule am Hamburger Neuen Allgemeinen Krankenhaus (heute UKE) nachweisen. Sie wurde von einer ausgebildeten Lehrerin betreut, deren Schulberichte eine alltagsgeschichtliche Quelle ersten Ranges darstellen. Sie informieren über Ablauf und Inhalte des Unterrichts, geben Einblick in die Schwierigkeiten und Widerstände, denen die Lehrerin in dem von medizinischen Prioritäten bestimmten Betrieb der damals größten Krankenanstalt Deutschlands begegnete, und vermitteln ein lebhaftes Bild vom Leben der zumeist aus unteren Sozialschichten stammenden kleinen Patienten während ihrer oft langen Klinikaufenthalte.
23.5.2006 1800 - 1930 zusammen mit dem Department Philosophie (siehe Ankündigung)
Prof. Dr. Volker Peckhaus (Universität Paderborn)
Die Tragik des Pioniers: Ernst Zermelo und die Grundlagen der Mathematik
Ernst Zermelo (1871-1956) ist die tragische Figur der mathematischen Grundlagenforschung. Als Schöpfer der modernen axiomatisierten Mengelehre, als erster Inhaber eines offiziellen Lehrauftrags für Mathematische Logik in Deutschland, aber auch als Pionier der Spieltheorie und Meister der Variationsrechung hatte er gerade einmal sechs Jahre seines Lebens eine bezahlte Professur inne. Im Vortrag werden Leben und Werk Zermelos nachgezeichnet unter besonderer Berücksichtigung seiner Beiträge zu Mengelehre, Logik und Philosophie der Mathematik.
29.5.2006
Prof. em. Dr.-Ing. Dr.-Ing.E.h. Dr.h.c. mult. Erwin Stein (Universität Hannover)
Calculemus! Neue Forschungsergebnisse zu den Leibnizschen Rechenmaschinen und Hannoversche Nachbauten mit Optimierungen
Nach einer Einführung in bedeutende Entwicklungen des 17. Jahrhunderts wird die Leibnizsche Vier-Spezies-Rechenmaschine - 1673 zuerst mit Sprossenrädern und ab 1693 mit Staffelwalzen für die Zahleneingabe - mit ihren Funktionsweisen, insbesondere der zweistufigen Zehnerübertragung, anhand von Skizzen und perspektivischen Zeichnungen erläutert und die wichtige Frage nach korrekten Zehnerübertragungen im gesamten verfügbaren Zahlenbereich erörtert, auch in Verbindung mit der maximal möglichen Zahl von Eingabestellen. Die Leibnizsche große Maschine seit 1693 hat 8 Eingabe- und 16 Resultatstellen.

Es folgt die kritische Erörterung der Lehmannschen Nachbauten in Dresden aus den 1980er Jahren mit von rechts nach links abnehmenden Spreizwinkeln der Zweihörner (zwischen den Staffelwalzen), jedoch mit den gleichen unvollständigen Zehnerüberträgen wie bei der Original-Maschine. Aus unserer Forschung ergab sich die Notwendigkeit von Weiterdrehungen der Magna-Rota-Kurbel um 84°, wobei jedoch in den Lehmannschen Nachbauten bereits neue Rechnungen mit der Eingabezahl erfolgen.

Unser Hannoverscher Nachbau für Ausstellungszwecke im Maßstab 2:1 beruht auf eingehenden getriebe-kinematischen und analytischen Untersuchungen einschließlich einer mathematischen Optimierung; diese ergab die maximal mögliche Zahl von 8 Eingabestellen - wie sie von Leibniz gewählt wurde.

Weiterhin wird unsere neukonstruierte binäre Machina Arithmeticae Dyadicae nach der Leibnizschen Beschreibung von 1679 - sowie in Anlehnung an die Erstbauten am Deutschen Museum München von 1971 nach Ludolf von Mackensen und am Landesmuseum Kassel von 1985 - vorgestellt. Sie rechnet im gesamten verfügbaren binären Zahlenbereich korrekt und erlaubt durch die Acryl-Bauweise vollständige Einsicht.

Leibniz’ Rechenmaschinen sind ein wichtiger Bestandteil seiner auf Synthese beruhenden Erfindungen in der Ars Inveniendi, der Kunst des Erfindens; sie stellen nicht nur grundlegende Weiterentwicklungen vorhandener Maschinen dar, sondern sind das Ergebnis der Anwendung von mathematischer Logik, wobei große kinematische Komplexität trotz der Schwierigkeit der Ausführung nicht gescheut wurde. Die Vier-Spezies-Maschine war in ihren wichtigen Funktionen und Bauteilgruppen maßgebend bis ins 20. Jahrhundert.
19.6.2006
Prof. Dr. Jörn Henning Wolf (Universität Kiel)
auctoritas und experientia im Wettstreit über den Verbindlichkeitsrang wissenschaftlicher Erkenntnis in der frühneuzeitlichen Medizin
Die bis zur Polarisierung führende, zuweilen im methodologischen Konflikt endende Auseinandersetzung über die Erkenntnisprinzipien und -verfahren in der medizinischen Wissenschaft wird am Beispiel der Renaissance-Anatomie dargestellt. Der Widerstreit zwischen Tradition und Innovation, zwischen philologischer Vergewisserung anhand überlieferter Quellentexte und evidenter Erfahrung am Naturobjekt erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung im Einzelfall als eine allmählich entstehende und manchmal unüberwindliche Diskrepanz in der individuellen Bewusstseinslage einer Forscherpersönlichkeit der Zeit. Eine solche Antinomie scheint symptomatisch zu sein für die vom Geist und Bestreben des Humanismus wie gleichfalls vom Impuls zur eigenhändigen und autoptischen Naturerforschung geleiteten Gestalt des Andreas Vesalius. Sein Entwicklungsgang vom Respekt vor der traditionellen Wissensautorität über die resolute Emanzipation bis zum relativierenden Eingeständnis empirischer Erkenntnisgrenzen imponiert als ein exemplarisches Phänomen des Zeitalters.
26.6.2006
Klaus P. Sommer (Göttingen)
Der Schatz auf dem Dachboden. Briefe von Einstein, Born, Planck, Nernst, Debye, Weyl, Ehrenfest, Sommerfeld, Courant an David Hilbert gefunden auf einem Göttinger Dachboden - Wissenschaft und Politik 1915-1918
2000 fand der Vortragende 131 zum großen Teil komplett unbekannte Briefe an David Hilbert auf einem Göttinger Dachboden wieder. Im ersten Teil wird er über seinen Fund berichten und wie diese wertvollen Briefe auf den Dachboden kamen. Im zweiten Teil wird er auf den Inhalt der Briefe ausführlicher eingehen - insbesondere auf Briefe Max Borns und Richard Courants, die neues Licht auf den Einstein-Hilbert Prioritätsstreit und auf ihr politisches Engagement im 1. Weltkrieg werfen.
3.7.2006
Bernd Klengel (Halle)
Die Verbindung von romantischer Naturforschung und idealistischer Naturphilosophie im Spiegel französischer Wissenschaft
Obgleich Thomas S. Kuhn nicht der Erste war, der sich mit dem Einfluss der idealistischen Naturphilosophie auf die Naturwissenschaft des 19 Jahrhunderts befasste, war es die von ihm 1959 veröffentlichte Studie Energy Conservation as an Example of Simultaneous Discovery, die eine Fülle von Veröffentlichungen zum Verhältnis von idealistischer Naturphilosophie und Naturwissenschaft zur Folge hatte. Zwar ist die von ihm dort geäußerte Vermutung, dass die idealistische Naturphilosophie zu den Faktoren gehört die zur Entdeckung des Energiehaltungssatzes führten, bis heute umstritten, doch gilt als gesichert, dass sich die eine oder andere Entdeckung auch dem Einfluss idealistischer Naturphilosophie verdankt. Dank all der in den letzten Jahrzehnten unternommenen Forschungen verfügen wir heute über ein in Teilen recht differenziertes Bild der Interaktion von Naturphilosophie und Naturwissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bislang aber fast völlig unerforscht blieb die Rezeption romantischer Naturforschung im Ausland. Ein wenig Licht in dieses Dunkel zu bringen ist Ziel dieses Vortrags. Dazu werde ich ihnen zunächst einige der Protagonisten romantischer Naturforschung vorstellen, um daraufhin die Wege auf denen Informationen über die wissenschaftlichen Aktivitäten dieser Gruppe in den französischsprachigen Teil Europas gelangten ein wenig näher zu beleuchten. Im abschließenden Teil werde ich dann auf die inhaltlichen Aspekte der Rezeption zu sprechen kommen.
10.7.2006
Dr. Torsten Rüting (Universität Hamburg)
Embodied Cognition - Umwelt entsteht im Körper - Geschichte und Aktualität der Konzepte Jakob von Uexkülls
Interdisziplinäre Zugänge zur Erforschung der körperlichen Korrelate unseres Geistes, den sog. "Embodiments of Mind", finden ein wachsendes Interesse und verbinden Biologie, Medizin, Psychologie und Philosophie. Wissenschaftshistorisch betrachtet sind diese aktuellen Konzepte nicht neu, wurden jedoch von dualistischen "körperfeindlichen" bzw. "geisteszentrierten" Denktraditionen immer wieder verdrängt. Als konsequenter Ansatz einer interdisziplinären Kognitionsforschung kann die von Jakob von Uexküll (1864-1844) entwickelte Umweltforschung gelten. Die Bedeutung dieser Konzeption wurde von führenden Philosophen der Moderne und Postmoderne anerkannt von Biologen aber oft misverstanden. In Hamburg erreichte Uexkülls Umweltforschung durch ihre Institutionalisierung und die Rezeption durch den Philosophen Ernst Cassirer und die Psychologen William Stern und Heinz Werner besondere Blüte und weiteren Einfluss auf die Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts. In den letzten Jahrzehnten wird Uexkülls Konzeption u.a. von Kognitiven Neurowissenschaftlern, von Praktikern der Robotik und von Biosemiotikern als Pionierleistung wiederentdeckt.